Adriafrage

Adriafrage
Adriafrage,
 
von Italien mit seiner nationalen Einigung im 19. Jahrhundert (im Zuge der Irredenta) aufgeworfenes Problem, enthielt politisch die Forderung nach italienischer Vorherrschaft im Bereich des Adriatischen Meeres (»mare nostro«, »unser Meer«) und nach Eingliederung seiner nördlichen Küstengebiete in den italienischen Staat. Mit diesem Ziel geriet Italien vor dem Ersten Weltkrieg in Konflikt nicht allein mit den Interessen Österreich-Ungarns, sondern auch mit denen der jungen Balkanstaaten (besonders Serbien; Erster Balkankrieg), die den freien Zugang zur Adria forderten. Nach 1918 war die Adriafrage v.a. ein Streitpunkt zwischen Italien und Jugoslawien.
 
Im Londoner Vertrag (1915; Londoner Konferenzen und Vereinbarungen) ließ sich Italien von den Entente-Mächten Großbritannien und Frankreich gegen das Versprechen, an ihrer Seite in den Ersten Weltkrieg einzutreten, Gebiete und Einflusszonen im adriatischen Raum zusichern. Nachdem Italien in den Pariser Vorortverträgen 1919/20 nur einen Teil der Gebiete (Triest, Istrien und Zara) erhalten hatte, sahen v. a. nationalistische Kreise in Italien in der Adriafrage und ihrer Lösung in den Friedensverträgen ein sichtbares Zeichen des »verratenen Sieges«. In diesem Sinn verhinderte G. D'Annunzio als Führer einer italienischen Freischar 1919/20 die Internationalisierung Fiumes (Rijeka), das nach dem Rapallovertrag zwischen Italien und Jugoslawien (1920) zum Freistaat wurde (»Fiume-Frage«). Nach der Abtretung Fiumes an Italien im Adriapakt (»Abkommen von Rom«, 27. 1. 1924) zwischen Italien und Jugoslawien, am 20. 7. 1925 durch die Konventionen von Nettuno ergänzt (August 1928 von Jugoslawien ratifiziert), geriet der Balkan und die Adriafrage ins Zentrum der Expansionspolitik des faschistischen Italien; es besetzte im April 1939 Albanien, marschierte nach seinem Eintritt in den Zweiten Weltkrieg (1940) 1941 in Montenegro ein und verleibte sich Teile Sloweniens und Dalmatiens ein. Nach dem Zweiten Weltkrieg musste Italien im Frieden von Paris (10. 2. 1947) auf seine Erwerbungen im nördlichen Küstengebiet der Adria (einschließlich der nach dem Ersten Weltkrieg gewonnenen Territorien) verzichten; Istrien kam wieder an Jugoslawien (Slowenien beziehungsweise Kroatien), über 200 000 (nach anderen Angaben 300 000) Angehörige der italienischen Minderheit wurden vertrieben beziehungsweise wanderten nach der Option für Italien aus (so genannte »Optanten« beziehungsweise »Esuli«). Triest und sein unmittelbares Umland wurde Freistaat, der jedoch 1954 zwischen Jugoslawien und Italien aufgeteilt wurde. Die Grenzziehung wurde 1975 im Vertrag von Osimo von Italien und Jugoslawien bestätigt, gleichzeitig erfolgten erste Regelungen zur Entschädigung der vertriebenen »Esuli« (Nachfolgeabkommen von 1977 beziehungsweise 1984). Die nach dem Zerfall Jugoslawiens (1990-92) entstandenen Republiken Slowenien und Kroatien erklärten wiederholt ihren Willen zum Eintritt in die bestehenden Verträge. Bis 1995 waren die Rechte der italienischen Minderheit in Slowenisch-Istrien (2 500-3 000) und Kroatisch-Istrien (25 000-30 000) sowie Entschädigungs- beziehungsweise Rückgabeforderungen der »Esuli« umstritten.
 
Ein geforderter »freier Zugang zur Adria« bestimmte 1992-95 auch die militärischen Auseinandersetzungen um die verschiedenen ethnischen Siedlungsgebiete in Kroatien (Bucht von Piran) sowie Bosnien und Herzegowina (Korridor von Ploce, Bucht von Klek [Neum]); zwischen Kroatien und Jugoslawien umstritten ist (seit 1992) die Halbinsel Pevlaka (Bucht von Kotor).
 
 
W. Hildebrandt: Der Triest-Konflikt u. die ital.-jugoslaw. Frage (1953);
 
Successful negotiation: Trieste 1954. An appraisal by the five participants, hg. v. J. G. Campbell (Princeton, N. J., 1976).

Universal-Lexikon. 2012.

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